Kommentar zu den Hamburger Verhältnissen
In der Ausgabe 197 der ZECK erschien unter der Überschrift “Ultra nervig” ein Artikel von lange anonym gebliebenen Autorinnen und/oder Autoren, der Konflikte zwischen den Hamburger Fanszenen thematisierte. Darin wird ein auf allen Ebenen völlig verzerrtes Bild der aktuellen Zustände gezeichnet, welches wir lediglich aufgrund der Tatsache, dass es in einem von uns geschätzten Leitmedium der radikalen Linken in Hamburg publiziert wurde, in Bezug auf einzelne Aspekte kommentieren möchten. Dies erscheint uns sinnvoll, da von gewissen Kreisen nun bereits mehrfach versucht wurde, Dinge umzudeuten oder Situationen entstanden sind, in denen dieses Thema eine unmittelbare Wirkmächtigkeit entwickelte.
Der Artikel suggeriert fälschlicherweise, es handele sich um einen generischen und von Lokalrivalität geprägten Konflikt zwischen St. Pauli- und HSV-Fans und beklagt dessen vermeintliches Spaltungspotential. Wer die Linke in Hamburg kennt, dem ist jedoch sehr bewusst, dass ein Konflikt zwischen den Farben Braun-Weiß und Schwarz-Weiß-Blau innerhalb von politischen Strukturen stets klein gehalten wurde und die politische Praxis nur in seltenen Fällen beeinträchtigt hat. Schwerere Auseinandersetzungen kamen beispielsweise auf Demonstrationen bis vor kurzem nahezu nicht vor.
Die kritisierte Fußballgewalt ist ein komplexes Feld, bei dem wir sicherlich nicht immer alles richtig machen. Zwischen Selbstverteidigung, der Verteidigung gegen Repressionen des Staates und des Verbands, dem Schutz von eigenen (Frei-)Räumen und Freiheiten, sportlicher Auseinandersetzung auf der Straße und einem Gewaltfetisch sind die Übergänge fließend und werden von jedem anders interpretiert. Maßgebliche Aufgabe einer Gruppe ist es daher, diese Aspekte stets zu bewerten und dabei auch die eigenen Schwerpunkte und Herangehensweisen zu hinterfragen.
In 15 Jahren Ultrà Sankt Pauli wurden Fußballkonflikte von uns diesem Credo folgend fast ausschließlich außerhalb des politischen Kontextes ausgetragen. In den letzten Jahren existierten teilweise beständige, teilweise brüchige und teilweise auch unausgesprochene Agreements, die besonders mit politisch aktiven Fans des HSV bestanden. Das Ergebnis war weitgehende Ruhe im Kontext von politischen Aktionen. Dieser Punkt wird von den Autorinnen und Autoren absichtlich verschwiegen, um von der Tatsache abzulenken, dass die Eskalation und die drastisch veränderte Situation lediglich einige spezielle Gruppen betrifft, die in der jüngeren Vergangenheit alle Regeln gebrochen haben, im Nachgang keinerlei Aufarbeitungswillen oder Selbstreflexion zeigten, sich für ihre Taten noch gefeiert haben und dafür nun die Konsequenzen tragen und weiterhin tragen werden.
Seit rund einem Jahr ist es zu verschiedenen Aktionen gegen Fans und Ultras des FC St. Pauli gekommen, die sich oftmals nicht mehr im Bereich der normalen und gelebten Auseinandersetzung befanden und die wir nicht tolerieren oder vergessen werden. Es handelt sich dabei – neben Dingen wie persönliche Bedrohungen und Angriffe, die für sich schon eine gewisse Grenze überschritten – zum einen um unerträgliche und wiederholte Angriffe durch HSV-Fans auf unterlegene Einzelpersonen (inklusive persönliche Assistenzen), teilweise um St. Pauli-Ultras zu Auseinandersetzungen in die südlichen Vorstädte zu locken. Zum anderen handelt es sich um einen Messerangriff, den die betroffene Person nur durch Zufall überlebte. Der tiefe Stich in den Rücken war der manifeste Höhepunkt einer Reihe von Vorfällen, die offenbart haben, dass selbst der elementare Respekt vor dem Leben abhanden gekommen ist.
Die Verantwortung für diese Dinge wird auf HSV-Seite nicht angenommen. Es war in der Folge kein Hinterfragen erkennbar, keine Distanzierung, sondern im Gegenteil ein Herunterspielen der Vorkommnisse bis hin zur Glorifizierung in Gesprächen (Grinsen und Lachen, wenn das Thema aufkommt), Kurznachrichten (“Vielleicht haben die Zecken es jetzt mal gelernt!”) und Streetart (“Zecken stechen!”-Tags). Für viele im Umfeld unverständlich, haben wir zu Beginn dennoch das Gespräch mit der entsprechenden Gruppe, die sich zumindest in Teilen der linken Szene zugehörig fühlt, gesucht. Nach Diskussion in HSV-Kreisen und zweimaligem Austausch mit USP war und bleibt das Ergebnis schlicht erschreckend und ernüchternd. Folglich handelte es sich dabei um unseren vorerst letzten Versuch, eine Relativierung zu ermöglichen und somit rechnen wir die Taten und den Umgang damit diesen Gruppen direkt zu.
Die entsprechenden HSV-Fangruppen sowie ihre Unterstützerinnen und Unterstützer bis hin zu einem völlig plan- und wirkungslos agierenden HSV-Fanprojekt zeichnen sich nahezu durchgehend dadurch aus, dass Zusammenstöße in “hinterhältige Aktionen” umgedeutet werden. So und mit weiteren Mitteln wie beispielsweise dem Artikel in der ZECK wird verzweifelt versucht, die Isolation aus gewissen Kreisen abzuwenden. Die Möglichkeit einer sportlichen Auseinandersetzung scheint nicht zu bestehen, denn eine Niederlage darf offenbar definitionsgemäß nicht vorkommen. Vielmehr werden Geschichten herbei fabuliert, um Dinge nicht als Niederlage annehmen zu müssen. Diese Herangehensweise und ein falsch verstandenes Gefühl von gekränkter “Ehre” in den Reihen des HSV provozierte und provoziert viele schlimme Übergriffe. In diesem Kontext erscheint der Vorwurf von “Macker-Attitüde” noch einmal wahnsinniger.
Mit Gruppen, die genannte Dinge tun, decken und gar verteidigen und sich darüber profilieren, gibt es keine gemeinsame Basis oder Verständigung, keinen “gemeinsamen Nenner”, sie können keine “Genossinnen und Genossen” sein. Sie sind unsere Gegner und werden so behandelt – und sie bleiben es auch, wenn sie sich in linken Strukturen verorten/bewegen wollen oder sich ein Antifa-Shirt anziehen. Unter anderem haben sie sich für uns für eine gemeinsame linke und emanzipatorische Praxis oder eine gemeinsame Nutzung von Räumen nachhaltig disqualifiziert. Die mantra-artig geäußerte Forderung, dass ausschließlich politische Differenzen geeignet sein dürfen, eine Grenzziehung zu ermöglichen, hielten und halten wir für falsch und werden sie nach den schweren Vorkommnissen bis hin zu einem Fast-Todesfall nicht länger akzeptieren. Die Beschwerden über “Schief-angeguckt-werden” und ähnliche Dinge sind vor diesem Hintergrund schlicht grotesk und völlig weltfremd. Vielleicht gibt es im Elfenbeinturm das Zuckerwatte-Zimmer, in dem alle Konflikte ausdiskutiert werden und man sich bis zur Bewegungslosigkeit reflektiert. In der Südkurve sieht das aber etwas anders aus.
Es ist für uns nicht nachvollziehbar und teilweise respektlos, wie die Geschehnisse in Teilen der linken Szene so leicht abgetan werden – lediglich weil es einen Fußballhintergrund hat, das ganze “Fußballding” sowieso irgendwie nicht in den eigenen Habitus passt und somit die vermeintliche Fokussierung auf politische Inhalte gefährdet sei. In Hamburg sind in der Vergangenheit regelmäßig Personen sehr viel niedrigschwelliger und für sehr viel weniger als einen Mordversuch aus dem Umfeld der eigenen Gruppe aus unseren Strukturen isoliert worden. Es gibt in der Hamburger Politszene ganze Strömungen, die in keiner Weise auf eine “Einigkeit” und “Offenheit” der Linken hinarbeiten, sondern die das Gegenteil forcieren. Auch in dieser Hinsicht sind in der Vergangenheit Konflikte eskaliert. Diese Prozesse und Folgen sind weder für uns noch für die Linke im Allgemeinen erfreulich, neu sind sie jedoch nicht.
Eine weitere Respektlosigkeit, die wir nicht hinnehmen werden: Zwischen den Zeilen wird einer Gruppe, die seit ihrer Gründung vor 15 Jahren Teil der Linken ist, diese Identität abgesprochen. Der Artikel suggeriert Fußball-Idioten, die ihre Konflikte (ja regelrecht von außen) in die eigentlich ja so offene und fokussierte Politszene hineintragen und verdreht damit die Geschichte von St.Pauli-Fanszene / USP / Flora / Linke völlig. Es ist müßig herauszustellen, welche Rolle USP als Teil der Hamburger Linken gespielt hat und spielt – jeder mit ein bisschen Ahnung weiß darum.
Quasi als weitere Nebelgranate verwendet der Artikel Formulierungen wie “Männerfußball”, stellt die vermeintlich männlich dominierte Struktur der Gruppe heraus, bemüht die alte Männlichkeitsleier und wurde mit “Kommando ‘Macker auf den Acker’” unterzeichnet. Es handelt sich um den billigen Versuch, auf irgendeinem heißen En-Vogue-Polit-Ticket noch etwas Rückhalt für die eigenen Forderungen zu behalten. Es gibt sicherlich nur wenige Fangruppen, in denen Frauen so eine tragende Rolle spielen und in denen Antisexismus so eine weit verbreitete und durchdringende Praxis ist. Es macht uns wütend, dass unseren weiblichen Mitgliedern indirekt abgesprochen wird, gleichberechtigter Teil unserer Gruppe zu sein und deren Positionen mitzuentwickeln und zu teilen. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass auch Frauen Spaß an “Rummackern” oder an anderen vermeintlich männlich konnotierten Verhaltensweisen finden können. Es ist nicht grundsätzlich schlecht, nur weil Männer es tun. Würde man dieser Logik folgen, dann könnten sich Frauen keiner männlich dominierten Subkultur anschließen und sich darin emanzipieren. Und keine Sorge, wir konfrontierten auch Frauen der betreffenden Gruppe und des Umfelds mit diesem Konflikt und werden das weiterhin tun.
Zur Illustration des Artikels wurde zum krönenden Abschluss das Logo eines Blogs gewählt, der schlimme rassistische, sexistische und antisemitische Ausfälle in den Fanszenen sammelt. Jüngst Hitlergrüße und “Arbeit macht frei – Babelsberg 03”-Rufe von Cottbuser Faschisten, schwulenfeindliche Spruchbänder in mannigfaltiger Form oder Spruchbänder der Machart “Femen-Fotzen das Arschloch mit Wichse zubomben”. Hierdurch wird sehr bewusst versucht, eine Brücke vom aktuellen Konflikt zu Dingen zu schlagen, die relativ uninformierte Leserinnen und Leser dazu animieren sollen, den beschriebenen Konflikt wahlweise als bekämpfenswert oder spalterisch/albern einzuordnen. Ein weiterer schwerer Fehler und ein direkter Angriff auf alles, was USP ausmacht. Es ist grotesk, absurd und allein dadurch schon völlig offensichtlich, welche Intention der Artikel hat. Hinzu kommt das latente Abqualifizieren von Habitus, Organisation oder subkulturellen Ausdrucksformen wie Streetart, Kurvenkultur oder Auswärtsfahrten.
Einleitend beklagt der Artikel einen Positionierungsdruck. Ja, den gibt es und diesen werden wir aufrechterhalten. Wir fordern keine Positionierung zu Vereinen und haben das niemals getan, aber wir fordern absolut unnachgiebig eine Positionierung sowohl zu den Vorfällen als auch zu der betreffenden Gruppe und ziehen aus der Reaktion darauf Konsequenzen. Wir würden uns freuen, wenn ihr mit euren Freundinnen und Freunden, mit euren Genossinnen und Genossen darüber sprecht.
Bei Interesse stehen wir nahezu allen anderen Interessierten zur Diskussion zur Verfügung.
Geschichte wird gemacht! Im weiteren Verlauf aber mit ein paar Maden weniger.
Ultrà Sankt Pauli, Mai 2017